Nachdem wir in Istanbul angekommen sind, denke ich: so, jetzt ist das schlimmste Stück der D-100 hinter uns, her mit dem schönen Leben. Und schwupps, da war es das schöne Leben und auch ein einschneidendes Erlebnis.
Istanbul – für mich klingt das schon immer nach Geheimnissen, die entdeckt werden wollen. Egal wo man sich befindet, in Istanbul ist Wasser nie weit entfernt und der Lebensrythmus so unstet, wie die Wellen darin. Filigrane Türme überragen die Dächer, in der hereinbrechenden Dämmerung ist das Licht am faszinierendsten, dazwischen pulsiert eine Stadt mit vielen Gesichtern, die so alt ist, das sie nichts mehr schocken kann. Wir wandern durch die Straßen und saugen diesen Mix verschiedener Einflüsse in uns auf. Es treibt uns nicht zu den weltberühmten Sehenswürdigkeiten, sondern vielmehr schauen wir den Istabulern dabei zu, wie sie leben.
Ein glücklicher Zufall erwischt uns, als wir gerade unseren ersten Çay nach unserer Ankunft trinken. Der junge Mann am Nebentisch spricht uns an, fragt, wo wir herkommen. Er war gerade letzte Woche in Konstanz erfahren wir und er hat einen Freund, der für ein Radmagazin schreibt. Er gibt uns die Kontaktdaten und muss dann weiter. Am nächsten Tag schreiben wir Ibrahim, dem Radjournalisten, ob wir uns treffen können, wir würden gerne seine Einschätzung zu unserer Tour durch die Türkei hören. Er willigt ein. Wir treffen uns im hippen Stadtteil Moda, bereits auf der asiatischen Seite, auf einer Çay Terrasse mit Blick auf die Hagia Sophia und die blaue Moschee. Es ist wie eine Art Blind Date, weil wir kein Bild von Ibrahim kennen und dann stürmt ein wunderbares Paar auf uns zu. Ibrahim hat seine französische Freundin Marion mitgebracht und der Rest des Abends verläuft tatsächlich wie ein perfektes Date. Wir haben einander viel zu erzählen, berichten Abenteuer von verschiedenen Reisen, gehen phänomenal lecker Essen, können uns nicht trennen, verlängern den Abend mit einem Salep (ein leckeres Wintergetränk aus Milch, Orchideenwurzeln und Zucker) auf einer inzwischen dunklen Terrasse am Bosporus und verpassen dann immernoch fast die letzte Metro, die uns unter dem Bosporus wieder zurück auf die europäische Seite bringt. Wir versprechen unseren letzten Tag und unsere letzte Nacht in Istanbul auf jeden Fall zusammen zu verbringen.
An diesem letzten Nachmittag schlendern wir durch Moda, diskutieren, erfahren viel spannendes, lernen beeindruckende Dinge und werden inspiriert von der Art, wie Ibrahim seine Rad-Reise von der Türkei über den Iran, die arabichen Emirate, Pakistan, Indien, Nepal und Sri Lanka angegangen ist und ws er aus ihr mitgenommen hat. Z.B. Marion die beiden haben sich auf der Reise kennengelernt und sind zusammen noch durch Thailand, Kambdoscha und Myanmar geradelt – what a love story!
Beim Reden wird uns auch klarer, wie wir reisen. Wir planen unsere Route nicht entlang von Landschaften oder Sehenswürdigkeiten, sondern legen mehr Wert auf dieBegegnungen, die wir haben. Und die findet man überall. Wir fahren einfach Richtung Indonesien und versuchen dabei nicht allzu viele Höhenmeter abzustrampeln. Das Schöne daran ist: Da wir keine Erwartungn haben, sind wir oft positiv überrascht von den Landschaften und vor allem von den Menschen, die wir unterwegs treffen. Ibrahim nimmt auch mal ein Schiff oder die Bahn und legt mehr wert auf besondere Landschaften. Wir verlieren uns im Diskutieren über das Reisen und im Erzählen und Zuhören und fallen allesamt erschöpft ins Bett.
Ein letztes Frühstück auf der Blind-Date Terrasse ist uns zusammen mit Leckereien vom nahe gelegenen Markt vergönnt, die liebevoll von unseren Gastgebern ausgesucht wurden, bis wir wirklich los müssen. Der Abschied fällt schwer. Marion erzählt mir später, dass die beiden kurz davor waren auch auf ihre Räder zu springen und mitzufahren, sich dann aber besonnen haben und noch eine Weile Istanbul geniessen werden. Fernweh – wir kennen das. Heimatliebe – kennen wir auch.
Wir treten also in die Pedale und versuchen unsere im Erholungsmodus befindlichen Beine wieder zu motivieren. Geht auch ganz gut, nur haben wir genau den Muttertag erwischt, um an einer schönen Route direkt am Meer entlangzuadeln. So sind unsere beiden Klingeln im Dauereinsatz und Daniel muss ein paar Mal halsbrecherische Ausweichmanöver starten. Zwischendurch genießen wir den Anblick der Familien, die mit Grill, Decken und viel, viel Essen den Sonntag zelebrieren.
Am Ende des Tages erreichen wir unseren nächsten Warmshowers Host: Sarper. Wir sind ganz schön fertig von dem Tag, weil es sehr heiß war, duschen aber nur kurz bevor wir in Gemeinschaftsgarten von Sarpers Wohnblock den Platten an unserem Tandem reparieren wollen. Alle Nachbarn sind hell auf begeistert und helfen mit. Wir haben uns das Loch im Schlauch wohl direkt vor der blauen Moschee geholt als wir 2 Tage zuvor zu Ibrahim und Marion gefahren sind und mit voller Wucht in einen gut versteckten ausgeschlagenen Gullideckel gekracht sind. Zu dem Zeitpunkt haben wir zwar in unseren Rücken bemerkt, dass der Schlag hart war, aber die Luft blieb im Reifen. Kaum ist der geflickte Reifen wieder drin, fällt uns ein alt bekanntes Schleifen im Freilauf auf, welches wir schon einmal in Österreich hatten. Damals hat es noch gereicht viel Öl in den Freilauf zu kippen. Sarper ruft kurzerhand den Fahrradmechaniker seines Vertrauens an und der hat Sonntagabends um 7 natürlich auf weil Muttertag ist. Klar, völlig verständlich.
Unser Tandem wird kurzerhand mit Spanngurten auf Sarpers Pick-up gezurrt und in Mikells Radladen gekarrt. Der Familienbetrieb besteht aus Mikell selbst und seinem Vater. Schnell ist klar, dass wir wahrscheinlich einen neuen Freilauf aus Istanbul brauchen. Mikell wil gleich am Montagmorgen nach Istanbul fahren und diesen holen. Vielleicht können wir dann schon wieder mittags los. Sarper packt uns wieder in den Pick-up, wir holen ein Paket in einem Fischrestaurant ab und er bringt uns zu seiner Sommerresidenz, ein paar Kilometer weiter direkt am Meer. Es ist zwar schon dunkel, aber die frische Seeluft ist herrlich und wir genießen den schon lauen Abend. Sarper lädt uns ein gerne noch eine Nacht länger zu bleiben.
Am nächsten Morgen erwartet uns ein liebevoll hergerichtetes Frühstück und ein leere Wohnung. Sarper ist Arzt und früh in die Klinik gefahren. Wir warten bis mittags, dann ist klar, dass das Tandem nicht fertig werden wird. Wir lümmeln ein wenig herum, machen eine kleine Erkundungstour durch die Stadt, kaufen eine Tüte voll Kirschen von einem kleinen Laster am Straßenrand und trollen uns wieder in unser 5-Sterne-Resort. Als Sarper von der Arbeit kommt, wird nur kurz zusammengepackt und wir fahren ans bereits lieb gewonnene Sommerhaus. Diesmal dürfen wir das Seekajak ausprobieren, den Sonnenuntergang bei einem Bier, gegrilltem Gemüse und Köfte (Fleischbällchen) genießen. Sarper ist ein wunderbarer Geschichtenerzähler und wir lauschen gebannt bis spät in die Nacht.
Wieder lassen wir am nächsten Morgen ein Stückchen unserer Herzen bei Sarper. Er lässt es sich nicht nehmen uns in seiner Mittagspause nochmals zum Essen auszuführen und bringt uns dann zu unserem Tandem. Der Trennungsschmerz ist wieder groß. Und er wird noch größer als wir von diesen überwältigenden Erfahrungen wieder auf der feindseligen D-100 landen.
Der mentale Druck ist hoch, die Lastwagendichte auch. Ich versuche die Männer in den riesigen Tandemplattwalzen immer wieder durch freundliches Winken, bedanken und lächeln davon abzuhalten und mit nur 50 cm und 100 km/h zu überholen. In den aller- allermeisten Fällen gelingt das auch. Nur einmal, es ist ein Nadelöhr zwischen Meer und Gebirge auf einer Brücke, gelingt es mir nicht. Ich sehe kein überholendes Gefährt auf der ganz linken Spur, trotzdem saust der Tanklaster mit ca. 20 cm Abstand zu meinem Lenker an uns vorbei. Daniel zuckt zusammen, als der Truck sein Sichtfeld erreicht, hält aber glücklicherweise stur geradeaus. Die Sekunden bis er an uns vorbei ist, vergehen langsam und quälend. Das einzige was ich in solchen Situation tun kann: Daniels Gleichgewicht nicht stören und ruhig bleiben. Als es vorbei ist, bricht Daniel in Tränen aus. Die ganze Last der Verantwortung für mich, die Brutalität des an einen Mordversuch grenzenden fahrlässigen Manövers des LKW-Fahrers und die Hilflosigkeit darüber schnüren ihm die Kehle zu. Wir halten an, schieben das Tandem auf den Pannenstreifen und versuchen die kalte Panik und Angst zu vertreiben. Den Rest des Tages sind wir sehr still, jeder hängt seinen Gedanken nach und ich versuche einen Grund für das Verhalten des Fahrers zu finden, um es zu entschuldigen. Ich denke an die 2 Mio. LKWs, die uns überholt haben und vorsichtig waren und daran dass manche dieser wahrscheinlich noch nie auf einem Rad gesessen sind und die ausgesetzte Verletzlichkeit eines Rades gegen einen LKW gespürt haben.
Am Ende des Tages kommen wir auf kleinere Straßen und sehen zum ersten mal seit wir in die Türkei eingereist sind wieder einen Wald. Die Besiedlungsdichte wird endlich wieder kleiner. Unser Warmshower Bahadir und seine Familie empfangen uns herzlich in ihrem Haus im Grünen. Noch in der Nacht plant Daniel unsere Route um, nachdem wir uns dafür entschieden haben lieber jeden Tag unendlich viele Höhenmeter zu machen anstatt auf einem Highway diesen mentalen Strapazen ausgesetzt zu sein. Manchmal muss man im Leben einfach einen Schritt zur Seite treten und fragen: Ist es das wert? Und sich dann entscheiden. Wir haben uns für mehr Zeit und mehr Höhenmeter in diesem wundervollen Land entschieden und sind wieder happy. Was will man mehr?
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