Wenn ich an meine Kindheit und Turnhallen denke, denke ich an speckige blau-braune Matten, die dicke Bertha und peinliche Verrenkungen am Barren. Oder an Feuerball, Zirkeltraining und den Cooper Test. Sicher auch an den Geruch junger, verschwitzter Körper – vor allem in den Teenijahren mit billigem Vanilla-Deo übertüncht. Meist war es in der Turnhalle auch ziemlich kühl und das Licht so unvorteilhaft, dass man beim besten Willen keine Chance hatte Jungs in der Turnhalle mit seinem Aussehen zu beeindrucken, weil echt jedes Pickelchen sofort enttarnt wurde.
Wie sehen Kinderaugen Turnhallen heute? Entweder haben sie die Turnhalle schon länger nicht mehr von innen gesehen, weil der Sportunterricht aufgrund der Belegung der Hallen mit Geflüchteten ausfällt. Oder sie sind mittendrin in der Turnhalle. Sie ist ein vorübergehendes Zuhause.
Wenn ich heute ein Flüchtlingskind wäre und mein Zuhause beschreiben müsste, würde ich es vielleicht so sehen: Mintgrüner Linoleumboden, dicke schwere, weisse Plastikfolien abgetrennten Parzellen, die man durch tunnelartige Eingänge erreicht, füllen die Turnhalle. Dazwischen liegen breite Gänge, in denen die Biertische stehen, an denen 3 mal am Tag die ausgegebenen Mahlzeiten verzehrt werden. Vorher muss man sich natürlich anstellen, in eine lange Reihe von Menschen, die einen Teller voll Reis mit Gemüse erhalten. Immer zu festgelegten Zeiten, nicht von Mama gekocht und manchmal auch ungewohntes: Spätzle zum Beispiel. Falls man zwischendurch mal Hunger bekommt hat jede Familie einen Kühlschrank im Gemeinschaftsbereich. Daraus kommen nur kalte Sachen, einen Platz zum warm machen, gibt es einfach nicht.
Bei über 80 Leuten in einer kleinen Turnhalle sind die Duschen und der Sanitärbereich immer an der Kapazitätsgrenze. Die Mama schrubbt immer erstmal die Dusche, bevor man darin duscht. Tagsüber herrscht eine freundliche Atmosphäre in der Turnhalle, man spielt zusammen, geht nach draussen auf den Bolzplatz, spielt Verstecken. Abends wird es dann irgendwann ruhiger. Aber sicher kann man oft nicht schlafen, weil die Plastikvorhänge keinen Schutz vor Schall bieten – hier schnarcht einer, dort schreit ein Baby – die Mama kann deswegen oft nicht schlafen und dreht sich unruhig im Bett hin und her.
So oder so ähnlich könnte eine Beschreibung des Ganzen aussehen. Kein Vergleich zu einer deutschen Kindheit, bei der man im Fokus seiner Eltern steht, sein eigenes, wohlig warmes Kinderzimmer bewohnt, von Mama bekocht wird, zur Schule geht und nach den Hausaufgaben freie Zeit zum unbeschwerten Spielen bekommt. Man könnte jetzt denken: Die armen Kinder. Was ich jedoch bei meinen Besuchen in genau so einer Halle erlebt habe, zeigt etwas ganz anderes:
Die Fähigkeit von Kindern jede Situation so zu nehmen wie sie ist. Das Beste daraus machen. Immer und überall die Dinge mit ihrer kindlichen Begeisterung zu betrachten. Neue Freundschaften schliessen, offen sein für Begegungen, neue Freunde und dieses unendliche Vertrauen, das sie in einen setzen.
Ich war sehr gerührt von einer besonderen Begegnung, die ich in einem der Turnhallen machte. Ein kleines syrischen Mädchen, vielleicht 6 oder 7, nennen wir sie Nene. Ich kam in die Halle und sie kannte mich nicht, wollte mir aber sofort ihre Mama vorstellen, mich umarmen und ganz wichtig: ich sollte doch ein paar ihrer Zuckerkugeln, die sie in einer Plastiknuckelflasche herumtrug, probieren. Ich war ein wenig überrascht, den normalerweise kann ich nicht sofort mit Kindern. Von ihrer vollgesabberten Nuckelflasche wollte ich allerdings eher weniger probieren und lehnte dankend ab. Nach einer Weile, in der ich Flyer für das anstehende Kino verteilt hatte, hier und da geredet hatte, natürlich immer begleitet von Nene, wollte ich wieder aufbrechen. Nach gefühlten 1002 Küssen und weiteren Umarmungen war mir dies auch gestattet, allerdings nur unter dem Versprechen wiederzukommen. Ich versprach und verließ die Halle. Draussen angekommen griff ich in meine Jackentasche und hatte sicher den dreiviertel Inhalt der Nuckelflasche in Perlenform darin. Ich musste grinsen. Verdammt schlau die Kleine;)
Zwei Tage später kam ich wieder in die Halle, um alle, die mit zu Kino wollten, abzuholen. Ein Kinder-Empfangskomitee stand schon bereit. Alle gerieten sofort in helle Aufregung und überall wurde nach Jacken, Handschuhen, Schals gesucht, die Mütter zusammengetrommelt und lauthals „Cinema, cinema“ verkündet. Nene war natürlich ganz vorne mit dabei und bevor wir uns überhaupt begrüsst hatten, band sie mir schon ihr Armbund um das Handgelenk. Mir blieb nichts als verwundert „Dankeschön“ zu murmeln und sie zu umarmen – ich war so gerührt.
Nachdem alle sich vor der Halle versammelt hatten, gingen wir in der Gruppe los Richtung Kino. Wir waren sicher 30 Menschen. Kinder verschiedenen Alters, Mütter und sogar die Väter. Die entgegenkommenden Fußgänger waren ziemlich verdutzt von so viel Quirligkeit und Lebensfreude und es war wunderschön zu sehen wie alle Spass an dem Ausflug hatten. Nene war natürlich die ganze Zeit neben mir und hielt meine Hand – ich durfte sie nur loslassen um meine Tasche wieder richtig über meine Schulter zu legen oder um den Weg per Handzeichen anzugeben.
Im Kino angekommen suchten sich alle einen Platz, Nene neben ihrer Mama und ihrem Bruder – ein wunderhübscher kleiner Kerl mit strahlend blauen Augen. Während der Kinovorstellung kam sie immer wieder raus, um nachzuschauen, ob ich wohl noch da bin. Am Ende beim anschliessenden Buffet war sich auch immer an meiner Seite und knabberte geduldig an ihrem Brot während ich mich mit den Erwachsenen unterhielt.
Als die Zeit zum Gehen gekommen war, verabschiedete sich Nenes Mutter bei mir und ich bückte mich zu Nene hinunter, um ihr die Hand zu geben. Doch anstatt meine Hand zu nehmen, schmiß Nene sich mir an den Hals und drückte mir einen überaus liebevollen feuchten Kuss auf die Backe. Alle Umstehenden ließen ein lautes „Ohhhh“ hören und ich war mal wieder verzaubert.
Was ich sagen will: Da ist dieses kleine Mädchen, das wahrscheinlich seit einem Jahr auf der Flucht ist, vieles erlebt hat, was Kinder nicht erleben sollen und sich trotzdem diese Offenheit, Herzenswärme und das Vertrauen erhalten hat. Sie teilt das Wenige, das sie hat völlig unbeschwert und freigibig mit mir. Sie schenkt mir Zuneigung und Zuversicht, obwohl sie diese sicher noch ein wenig länger braucht, um in der Halle leben zu können.
Es ist wie so oft: ich bin tief berührt von so viel Menschlichkeit. Ich wünsche mir, dass wir diesen Kindern die Chance geben zu lernen, zur Schule zu gehen, einen Teil ihrer Kindheit zurzückerobern zu können. Ich würde mich freuen, wenn all die wunderhübschen Mandelaugen zu einer Lehrerin aufschauen würden und staunend Neues lernen könnten bei uns. In einem Land, in dem es möglich sein sollte, dass jedes Kind eine ordentliche Schulausbildung erhält.
Was ihr dafür tun könnt? Geht in den Hallen und Unterkünften vorbei, lernt die Kinder, Mütter, Familien kennen, informiert euch, wo man Schulsachen für die Kids spenden kann, überlegt euch ein Nachmittagsprogramm für die Kids oder helft bei den Hausaufgaben.
Vielleicht schaffen wir es dann, dass auch diese Kinder im Erwachsenenalter an Turnhallen denken, in denen sie Sportunterricht hatten. Und ihren eigenen Kindern ebenfalls eine gute Schulausbildung ermöglichen können. Ich würde es mir wünschen.
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