Wegesrand-Initiative #3: Cittaslow Gerze

In einer kleinen Stadt  am Schwarzen Meer treffen wir auf Menschen,  die ihren Heimatort lieben und mit Kreativität, Leidenschaft und Freude daran arbeiten die Schönheit des Lebens in Gerze zu  bewahren.

Bereits als wir nach Gerze hineinfahren, fällt uns die Schnecke mit den Häuschen auf dem Schneckendach auf, die wir von unsere letzten Besuch in Italien nur zu gut kennen. Sie ist das Logo von Slowfood, einer Food-Initiative aus Italien, die sich mit ihrem weltweiten Netzwerk dafür einsetzt, dass Lebensmittel handwerklich hergestellt und mit Wertschätzung genossen werden.

Wir nehmen uns vor die Verantwortlichen in der Stadt für ein Interview anzufragen, verlieren uns dann aber zunächst in einem Café, in dem wir Kuchen und Baklava schlemmen. Nachdem wir ein Hotel gefunden haben, von dem aus wir eine wunderbare Sicht auf das Schwarze Meer geniessen, drehen wir eine Runde durch die Stadt, kaufen frische Erdbeeren und Kirschen auf dem Markt und ein paar Kleinigkeiten in einem lokalen Supermarkt. Der Hunger treibt uns zu der kleinen Bistromeile mit Blick auf das Meer. Wir geniessen das Abendessen in der Dämmerung und die bunten Lichter, die mit der Nacht die Promenade erhellen. Vor dem Zubettgehen recherchiere ich noch zum Cittaslow Logo und finde ein kleines Kunstwerk von Film über Gerze, das mich dazu bewegt eine Mail an den Macher zu schreiben.

Die Sonne weckt uns morgens und wir beschließen spontan und ganz gegen unsere normale Gewohnheiten noch einen Tag in Gerze zu bleiben. Irgendwie fühlen wir uns wohl und unser sonst so ungebrochener Bewegungsdrang macht eine Pause. Wir genießen eines der ausladensten Frühstücksbuffets welche wir bisher in der Türkei sahen, mit vielen, kleinen, hausgemachten Köstlichkeiten und freuen uns, als der Koch mit frischen Zutaten vom Markt in die Küche schlendert. Auch wir machen uns auf zum großen Freitagsmarkt und drücken uns durch die engen Gänge voller Leben, freuen uns an den vielen Farben und den älteren Damen aus der Region, die ihr Gemüse und Obst, Milch und hausgemachten Käse anbieten.

Nach so viel Aufregung brauchen wir erst einmal wieder eine Pause und schlürfen unseren Çay in einem Café direkt am Markt, um das Treiben weiter beobachten zu können. Ein Mann verkauft ganze Honigwaben, andere verschiedenste Sorten von Oliven, es gibt lebendige Hühner und die Verkäufer preisen ihre Waren mit tiefen Stimmen an. Die Kartoffeln sind zu schwindelerregenden Pyramiden aufgetürmt, von denen Abends fast nichts mehr übrig sein wird. Die ganze Stadt und alle umliegenden Dörfer scheinen auf den Beinen zu sein und wie genießen den Rummel. Zurück im Hotel habe ich eine Antwort auf meine Mail bekommen und wir sind froh, dass wir geblieben sind.

Wir besuchen das Rathaus noch am selben Tag und werden herzlich vom Bürgermeister empfangen. Er ist ein wacher Mann mit intelligenten Augen, der versucht das Leben in Gerze für die Menschen von Gerze angenehm zu machen. Deshalb unterstützt er auch das Team, das das Cittaslow-Projekt durchführt, nach Kräften. Wir lernen Dilem und Caner kennen, die direkt am Cittaslow Projekt arbeiten und Özgür, der eigentlich Bauingenieur ist, durch seine private Leidenschaft für Foto und Film jedoch auch in das Projekt involviert ist und der Regisseur, Kameramann und Cutter des berührenden Films über Gerze ist.

Wir erfahren, dass Gerze früher mehr Touristen nach Gerze kamen, die Menschen in der Stadt sich aber gegen Bettenbunker und Massentourismus, wie er an manchen Orten des Mittelmeeres praktiziert wird, entschieden haben. Sie möchten gerne den Lebensstil bewahren, der Gerze prägt. Das sind nicht nur der quirlige Markt, die schönen Caféś, in denen man sich kennt und trifft Es ist auch die natürliche Schönheit von Gerze, die sich vom Meer, bis ins grüne Hinterland erstreckt. Und es ist das Handwerk.

Wir haben das besondere Glück, dass der Holzkünstler Adnan und seine bezaubernde Frau Deniz auch gerade Zeit haben uns zu treffen und wir dürfen die Werkstatt, in denen Adnan die Holzspielzeug-Workshops gibt und den Ausstellungsraum der beiden anschauen und sogar selbst ein wenig sägen. Wir werden mit einer selbstverständlichen Herzlichkeit empfangen und herumgeführt, die zeigt, dass es den Menschen in Gerze ein Anliegen ist ihre Besonderheiten zu pflegen und zwar einfach weil sie selbst es wertschätzen und es gerne anderen zugänglich machen.

So scheint es fast natürlich zu sein, dass Gerze eine Cittaslow geworden ist. Denn das Hauptanliegen dieser ist, Städte lebenswert zu erhalten. Städte sollen Orte sein, die den Menschen dienen, die dort leben. Ihnen eine gesunde und saubere Umgebung bieten, mit authentischen Produkten und hausgemachten Spezialitäten, der Erhaltung von Kunsttraditonen und Raum zur Entfaltung in Form von schönen öffentlichen Plätzen,  Grünanlagen und einer funktionierenden Infrastruktur.

Wir sind begeistert von dem Konzept der Cittaslow, die Hürden, um das Label zu bekommen, sind hoch und es gibt 7 Hauptanforderungen, die nach und nach bearbeitet werden müssen, um die Auszeichnung behalten zu dürfen. Darunter findet man Recycling, fahrradfreundliche Infrastruktur und das Verbot von gentechnisch verändertem Saatgut in der Landwirtschaft genauso wie die Anforderung städtische Randgebiete aufzuwerten, marginalisierte Gruppen einzubeziehen und Kräfte zu bündeln, indem mit anderen Initiativen zusammengearbeitet wird, die sich für dieselben Werte einsetzen.

Das Team in Gerze hat bereits ein paar Anforderungen umsetzen können, weitere Pläne enthalten die Eröffnung eines Fahrradweges, die Errichtung von Ferienhäuschen mit eigenem Gemüsegarten davor, sodass die Gäste leckeres Gemüse direkt vor der Haustür pflücken können sowie Holzspielzeug- und Kochworkshops.

Was uns auffällt: Die Leidenschaft, mit der jeder den wir treffen seinen Teil dazu beiträgt Gerzes Besonderheiten hervorzuheben und Dinge weiterzuentwickeln. Uns wird bewusst: Cittaslow ist nur der Rahmen, in dem das alles geschieht und gebündelt wird. Die Kraft, Kreativität und Liebe zu ihrer Heimat treibt diese Menschen eigentlich an und wir sind tief berührt von so viel Engagement.

Wir dürfen noch einen weiteren Tag mit Özgür, seiner Frau Şule und Caner verbringen. Özgür möchte ein paar Einstellungen mit dem Tandem drehen und wir sind mehr als glücklich ihm das ermöglichen zu können. Auf diese Weise sehen wir noch mehr von Gerze, lernen wieder einmal unbändige Gastfreundschaft kennen und kommen am Ende kaum von dem Abschiedsfrühstück los, das man uns liebevoll am Sonntagmorgen kredenzt.

Als wir losfahren sind wir noch ganz benommen von so viel Herzlichkeit, Leidenschaft und spontaner Freundschaft. Da treffen wir den Bürgermeister zufällig in der Bäckerei und er schenkt uns kurzerhand das Brot, das wir gerade kaufen wollten. Da ist es vorbei mit der journalistischen Objektivität, da kann man nur noch sagen: Besucht Gerze. Fühlt bedingungslose Gastfreundschaft, unverstellte Authentizität, Heimatliebe und die Schönheit dieser Menschen!

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