Der 6-monats Report

Wir haben es kaum mitbekommen, aber wir sind bereits 6 Monate mit dem Rad unterwegs. Bald  werden wir die magische Marke von 10 000 km knacken (in Echtzeit haben wir sie wahrscheinlich geknackt, wenn ihr das hier lest) und vor den Toren Chinas stehen. Von Deutschland nach China, jeden Kilometer aus eigener Kraft bestritten – außer die 2 km auf einer Fähre, die uns vom europäischen Kontinent auf den asiatischen gebracht hat. Zeit, ein Resumee zu ziehen.

Kurz zu den Superlativen:

  • 520 Stunden und 9.300 km gefahren
  • ca. 60.000 Höhenmeter bestritten
  • 15 Länder beradelt
  • 8000€ ausgegeben, davon 1000€ für Visa
  • 7 Platten, einen Mantel und 2 Umlenkrollen niedergefahren, eine neue Nabe eingesetzt
  • 1 Unfall
  • 1 ½ Liter Benzin für unseren Kocher verbraucht. Kleiner Vergleich: mit einem 4-Liter Auto wären wir damit von Konstanz bis nach Überlingen gekommen – ohne die Fähre zu benutzen.
  • Dies war definitiv der heißeste Sommer, den wir je erlebt haben. Unseren erste sonnenbedingte Mittagspause machen wir  vor Sheki in Aserbaidschan, 8 Wochen und unzählige schweißtreibende Stunden im Iran, Turkmenistan und Usbekistan später, realisieren wir in Tadjikistan, dass wir keinen Schatten mehr brauchen um die Mittagszeit zu überstehen. Gemessene Höchsttemperatur: 45°; nur zur Vollständigkeit: niedrigste Temperatur: -11,5° im Pamir
  • Höchster Punkt 4655 Ak-Baital Pass, Tadschikistan, niedrigster Punkt: – 28m am Kaspischen Meer

Was ist so schön am Reisen mit dem Rad?

Die Kulturen ändern sich Tag für Tag und so haben wir Zeit zu lernen, zu verstehen.

So richtig bewusst wird uns das, als wir in Bukhara in einem Boutique Hotel landen, in dem es von Europäern wimmelt. Ein Teil davon ist fasziniert von der Kultur und begegnet den Unterschieden mit Neugier und Entdeckungsfreude. Es gibt aber auch die, die europäische Standards erwarten und keinerlei Feingefühl oder Verständnis zeigen, wenn etwas mal nicht so ist, wie sie erwarten. Wir sind dankbar die Zeit zu haben, um zu lernen. Nicht, dass wir keine kulturellen Fauxpas begehen würden, aber sie fallen uns auf und wir können uns entschuldigen.

Hinter jeder Kurve wartet ein neuer Ausblick auf uns.

Zuhause weiß man meist recht genau was kommt. Hier entwickelt sich der Weg oft anders als man denkt. Das braucht Offenheit, macht aber auch so viele Möglichkeiten auf um dazuzulernen, Dinge aus anderer Perspektive zu sehen und das unerwartete zu umarmen.

Menschen, die auf Bäume starren.

Auch wenn die Hitze über Mittag uns oft an den Rand des Wahnsinns getrieben hat – man wacht aus seinem Nickerchen auf und liegt in einem See aus Schweiß, die Klamotten kleben einem am Leib und man kann kaum atmen – gab es eine Sache, die ich unheimlich genossen habe: Unter einem Baum liegend zuzusehen, wie die Sonne mit den Blätter spielt. Ich habe das schon as Kind geliebt und fühle mich heute noch am wohlsten, wenn vor meinem Fenster ein Baum steht, dessen Blattspiel ich beobachten kann. Im Alltag hat man oft nicht die Muße langgestreckt irgendwo zu liegen und einfach nur den Moment zu genießen, zu sehen, wie die Blätter im Wind flattern. Ich nehme mir vor dieses im Moment sein mit nach Hause zu nehmen. Bäume haben für mich etwas unendliches, sie sind oft schon viel länger da als ich und ich selbst fühle mich zeitloser, wenn ich sie beobachte. Probierts mal aus. Menschen, die auf Bäume starren.

Es wird einem so einiges bewusster, z.B.

Unsere Körper sind Wunderdinger

Ich stehe oft nach 8 oder 9 Stunden Schlaf auf und bin erstaunt, wie sich dieses geschundene, schmerzende und zippende Ding, das sich mein Körper nennt, wieder so gut anfühlen kann. Egal ob erbärmliche Hitze oder klirrende Kälte herrscht, egal ob ich gut bekocht wurde oder eine Tütensuppe mit klammen Fingern über dem Kocher gebraut habe, ob wie 50 oder 120 km gefahren sind, mein Körper funktioniert noch. Okay, er hat hier und da ein paar Wehwehchen. Unter den kleineren können die dunklen stellen an meinen Pobacken genannt werden, an denen der Sattel jeden Tag schleift und die meist schrille Schreie bei Menschen hervorrufen, die noch nie einen Radlerpo gesehen haben und die meine geplante Karriere als Oversize Unterwäschemodel gefährden;). Die größeren Wehwehchen sind meine schmerzenden Knie, die durch eine unüberlegte Sattelpositionverstellung ein sogenanntes Retropatellarsyndrom bekommen haben und weswegen ich in der Türkei fast das Rad als Transportmittel habe aufgeben müssen. Wenn ich mir jedoch anschaue, wieviel Ersatzteile das Tandem bereits gebraucht hat, um weiterhin tadellos vor sich hin zu rollen oder wie geschunden meine teils hochfunktionelle Outdoor-Kleidung aussieht – durchgescheuerte Hosenböden, bis zur Unkenntlichkeit ausgebleichte Shirts, keine einzige Socke ohne Loch – bin ich doch mehr als verzaubert von meine Körper, der alles einigermaßen in Schuss hält. Und das bei erschwerten Bedingungen: oft mangelnde, einseitige Nahrung, viel Zucker und Kohlenhydrate und wenig Gemüse, mit dem er sonst so verwöhnt wird. Chapeaue lieber Körper, du bist der Hammer!

Selbstverständliches wieder schätzen lernen

Gerade der ressourcenarme Pamir hat mich wieder einmal auf meinen Hosenboden gesetzt und mir gezeigt: Du bist ein Schwächling moderner Mensch. Unwirtliche Wetterverhältnisse den Großteil des Jahres, Wasser muss geschleppt, Feuer will gemacht werden und Strom kommt nicht einfach aus der Steckdose. Hier ist das meiste noch zeiteinnehmende Handarbeit und alle müssen mit anpacken. Von der betagten Omi bis zum 4jährigen Kleinkind. Es wird selbst Brot im Tonofen gebacken und man muss für jeden Toilettengang hinaus auf das Plumsklo. Auch nachts. Und wenn wir gerade nicht unter 1000 warmen Decken bei einer Familie Unterschlupf gefunden haben, heißt es nach knochenbrechenden 80 km noch schön auf dem Kocher Abendessen machen, mit a…kaltem Wasser abspülen und dann ab in den rettenden Daunenschlafsack, bevor die Minusgrade sich ins Zelt fressen. Morgens gibts dann erstmal kein Frühstück an den Schlafsack, weil schnell zusammengepackt sein will und losgeradelt, bevor die kuschelige Nachtwärme dem Körper ganz entwichen ist. Die Haut fühlt sich oft wie Schmirgelpapier an, weil es so kalt ist und die Sonneneinstrahlung auf über 3000 m so stark, dass ohne 50er Sonnencreme gar nichts geht. Manchmal stehen wir bewundernd am Straßenrand, wenn eine Yakherde vorbeitrottet und wir schauen neidisch auf das dicke Fell, das wir mit bunten Gore-Tex, Primaloft und Zwiebeltechnik zu imitieren versuchen.

Ganz, ganz oft sitze ich voller Ehrfurcht in einem der gemütlichen Häuschen und bin baff, wie Mami neben einem Job als Lehrerin noch drei Kinder versorgt, Essen für eine ganze Horde kocht und dabei daran denkt, dass wir vielleicht gerne unsere Gesichter mit warmem Wasser waschen wollen, wenn wir direkt von draußen kommen. Ich beginne mich zu fragen, wie ich eigentlich die Zeit nutze, die mir eine Indoor-Toilette, eine Waschmaschine, ein elektrischer Herd und eine ständige Wasserversorgung so bringen. Und ich bin angesichts der Abwesenheit von all dem dankbar daran erinnert zu werden, wie schön es ist, das alles zu haben. Und ich fühle mich ein bisschen wie ein degeneriertes Menschlein, das nicht mal wüsste, wie man ein ordentliches Feuer in den Ofen bekommt ohne “Anzünderle”.

Wie bleibt man fit im Kopf?

Die Omis, die ich hier sehe, haben zwar oft keine Zähne mehr, dafür aber Aufgaben, die sie irgendwie fit halten und die sie zu einem wertvollen Teil der Familie machen – auch wenn sie “nur” im Bett liegen und die kleinsten hüten. Ich finde es bemerkenswert, wie 80-jährige Omis auf 2 Matten auf dem Boden schlafen und es überhaupt nicht komisch finden, wenn da noch 2 auf dem Boden rumliegen. Sie sind so flexibel im Kopf und offen. wenn ich mir vorstelle meine Omi müsste mit zwei Fremden in einem Zimmer schlafen…

Wir sind also immernch neugierig und lernen jeden Tag dazu. Wir sind immernoch dankbar, dass wir das alles erleben dürfen und es macht und Freude, was die Reise mit uns macht. Mehr davon!